Studieren in Witten ohne Vorkenntnisse

Im Dezember 2017 war es endlich so weit. Ich hatte es geschafft! Ich hatte eine Studienplatzzusage für das Fach Humanmedizin. Als ich die Zusage erhielt, befand ich mich noch in meinem Pflegepraktikum, welches eine der Zulassungsvoraussetzungen für die Universität Witten/Herdecke ist. Ich war voller Vorfreude auf mein Studium, hatte jedoch nicht bedacht, was es heißt, ohne medizinische Vorkenntnisse in Witten zu studieren.

Vor dem Studium hatte ich ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht und mich damals bewusst gegen etwas Medizinisches entschieden, sodass ich letzten Endes in einer Kindertageseinrichtung landete. Ich habe in diesem Jahr viel wertvolle Erfahrungen für das Praktikanten- aber auch für das restliche Leben sammeln dürfen. In diesem FSJ lernte ich jemanden kennen, der in Witten studiert hatte und für mich den Kontakt zu der Universität herstellte. Da begann mein utopischer Traum, Medizin zu studieren, plötzlich ein wenig Gestalt anzunehmen und ich wagte es wieder zu hoffen. Ich hatte auf einmal die Chance auf einen Studienplatz ohne NC! Ich konnte beweisen, wie sehr ich mir wünschte, Ärztin zu werden und dass es der richtige Beruf für mich ist. Rückblickend denke ich oft, dass ich im Alter von 19 Jahren unglaublich naiv war und es mir vielleicht wirklich gutgetan hätte, vor dem Studium eine Ausbildung im medizinischen Bereich zu machen. Andererseits weiß ich auch, dass für mich damals keine Ausbildung infrage gekommen wäre – wer weiß, wo ich dann gelandet wäre. Doch wie sagt man so schön: Hinterher weiß man es immer besser.

Als im April das Studium begann, hatten viele – wie für Witten typisch – eine Vorausbildung, die ihnen im Studium auch oft weiterhalf. Das erste Semester befasst sich vor allem mit den Gelenken und somit größtenteils mit dem Fachbereich Orthopädie. In den ersten Wochen sollen die Basics gelernt werden. Wozu vor allem spezifische Fachbegriffe wie „medial“ und „lateral“ gehören. Diese sollen dann in den weiteren Wochen zum selbstverständlichen Sprachgebrauch der Medizinstudenten gehören.

In den ersten Wochen wurde ich von neuen Erkenntnissen und Erfahrungen überflutet. Einerseits hatte ich noch nie allein gelebt und der Umzug nach Witten war mein Erster. Ich war für das Studium ausgezogen und sollte plötzlich über 4 Stunden von meinem Elternhaus entfernt das Leben allein meistern. So ist es nicht verwunderlich, dass mich diese Situation im zunächst ein wenig überforderte und ich mich erst an die neue Wohnumgebung und an das Leben allein gewöhnen musste. Bis ich mich damit zurechtfand, hat es eine Weile gedauert. Andererseits war das Studieren an der Universität ein völlig neues Konzept und ganz anders, als ich es von der Schule kannte. Pflichtveranstaltungen gab es nur wenige und es wurde hauptsächlich an die Vernunft der Studierenden appelliert: „Kommt, wenn ihr wollt, und ihr denkt, es bringt euch was, ansonsten braucht ihr nicht kommen.“ Diese Einstellung kannte ich so noch nicht und ich brauchte eine Weile, um mein Pflichtgefühl, zu allen Veranstaltungen erscheinen zu müssen, abzuschalten.

Das Lernen der Fachbegriffe war anfangs auch kein Spaß für mich. Während die anderen von ihren Vorausbildungen profitierten und vieles schon kannten, tat ich mich schwer und habe mich in dieser Zeit sehr oft gefragt, ob ich wirklich für dieses Studium geeignet bin. Es dauerte einige Wochen, bis ich die Fachbegriffe in meinen Sätzen mit einbaute und ich kann bis heute sagen, dass ich bei den Ärzten, die oft in ihrem „Ärztedeutsch“ sprechen, eine gewisse Ablehnung verspüre. Ich denke nicht, dass jeder Satz so vollgepackt von Fachbegriffen sein muss, dass mich mein Patient im Zweifel nicht mehr versteht. Was bringt es mir mit solchen Worten, um mich zu werfen, wenn niemand den Sinn meiner Worte noch nachvollziehen kann? Doch andererseits bemerke ich auch, dass ich mittlerweile die Basics so alltäglich benutze, dass ich aufpassen muss, dass mich auch ein Nicht-Mediziner noch versteht. Ich weiß, wie allein ich mich in dieser Zeit beim Lernen manchmal fühlte, da die anderen Kommilitonen so viel schneller waren und viele Begriffe so selbstverständlich benutzten. Heute weiß ich natürlich, dass das keine böse Absicht war und man mir meine mangelnde Vorkenntnis nicht unter die Nase reiben wollte, sondern dass sich gewisse Sachen nach einiger Zeit einfach etablieren.

In den POL-Sitzungen konnte ich bei der Hypothesensammlung nicht viel sagen und wenn ich etwas sagte, kam ich mir häufig etwas dumm vor. Ich kannte noch keine Krankheitsbilder und wusste nicht, was es heißt, wenn jemand im Alter Probleme mit den Knien bekommt. Dieser Zustand blieb noch eine Weile so. Erst zum Ende des zweiten Semesters hatte ich erstmals das Gefühl, mir etwas Wissen angeeignet zu haben, welches ich auch abrufen kann.

Dieses Gefühl der Einsamkeit und der Beschwerlichkeit blieb recht lang in der Vorklinik erhalten. Ich kann mich an viele Stunden vor dem Schreibtisch oder in der Bibliothek erinnern, während ich von anderen weiß, dass das Lernen einen Monat vor der Prüfung für sie ausreichend war. Ich saß sehr viele Tage an den Themen, um mithalten zu können und zumindest in irgendeine Form einen Beitrag zu leisten.

Obwohl mir viele aus den höheren Semestern sagten, dass sich das mit der Zeit legen wird, trat bei mir dieses Gefühl erst spät – nämlich im klinischen Abschnitt – ein. Auch einige meiner Kommilitonen meinten in den POL-Sitzungen, dass es gut ist, jemand so unerfahrenes mit im Team zu haben, da man als beispielsweise gelernter Physiotherapeut ein paar Symptome liest und den Patienten schon eine Diagnose verpasst, ohne in die Weite zu schauen und auch andere systemische Erkrankungen in Betracht zu ziehen.

Rückblickend kann ich trotzdem sagen, dass jeder mit einer Ausbildung in Witten in vielerlei Hinsicht profitiert. Es fällt einem leichter, in das Studium reinzukommen und die Vorklinik erscheint im ersten Moment nicht so schwer beziehungsweise viele Sachen kommen einem bekannt vor. Außerdem kann ich dem Spruch „Mit dem Alter kommt die Reife“ auch in diesem Kontext etwas abgewinnen. Wenn Du schon vorher eine Ausbildung oder ein Studium gemacht hast, ist es vielleicht keine neue Erfahrung auszuziehen und allein zurechtzukommen. Man vergisst es leider im Stress zu oft, aber auch die psychische Gesundheit ist für das Meistern des Studiums enorm wichtig. Ich hatte sehr oft Heimweh und Schwierigkeiten, mich mit der neuen, ungewohnten Situation zurechtzufinden.

Nichtsdestotrotz habe ich die Zähne zusammengebissen und mich durchgeschlagen. Es ist zwar ohne Vorkenntnisse etwas schwieriger, jedoch keine Sache der Unmöglichkeit, das Studium zu meistern.

Autorin: Saher Dilshad