An der Universität Witten/Herdecke wird viel Wert auf ein praxisorientiertes Studium gelegt. Die Studierenden sollen so früh wie möglich lernen, wie die Anatomie, Physiologie und Biochemie im realen Patientenkontakt angewendet werden können. Dies wird in der Vorklinik durch das Problemorientierte Lernen (kurz: POL) gestärkt. Doch was genau beinhaltet POL und wie funktioniert POL an der UWH? Eine wichtige Frage, mit der sich jeder Bewerber der Humanmedizin an der UWH vorher beschäftigen sollte.
Woher kommt das Konzept POL?
Das Konzept des problemorientierten Lernens kommt ursprünglich aus dem pädagogischen und technischen Bereich. In der Medizin wurde dieses neue Lehrmittel erstmals 1969 durch Don Wood an der McMacster University (Kanada) eingeführt. Recht schnell wurde POL beliebter – in den 70ern wurden Universitäten gegründet, die das Problemorientierte Lernen als Hauptmethode nutzten. Ein Beispiel wäre hier die Medizinische Fakultät der Universität Maastricht (Niederlande). Das System hat sich so bewährt, dass es noch heute in Maastricht angewandt wird!
Heute werden auch an vielen Deutschen Universitäten anhand von POL wichtige Lehrinhalte vermittelt. Dazu gehört unter anderem die Private Universität Witten/Herdecke. Wer hier studiert, muss POL lieben und leben, denn das System ist Hauptlehrmittel und fester Bestandteil der Vorklinik. Doch wie funktioniert eigentlich POL und wie wird das an der Uni Witten/Herdecke umgesetzt?
Wie funktioniert POL?
Bei POL geht es primär darum, die zu anfangs gestellte komplexe Problematik in Kleingruppen (sechs bis sieben Studenten) zu lösen.
An unserer Uni sind das Fallbeispiele/Patientengeschichten, die in 2 Teile aufgetrennt werden. Mit dem 8-Schritte-System wird dann so präzise wie möglich der Fall aufgearbeitet. Dabei ist die Leitfrage jeder POL-Sitzung: „Was hat der Patient für eine Erkrankung und wie kann ihm geholfen werden?“
Die Studierenden beginnen mit dem gemeinsamen Lesen des ersten Teils der Fallgeschichte. Danach werden untereinander Fachbegriffe beziehungsweise grundsätzliche Verständnisfragen geklärt. Da jeder Studierende aufgrund von Vorerfahrungen einen unterschiedlichen Wissenstand hat, sind für einige viele medizinischen Fachbegriffe noch nicht geläufig, weshalb vor allem am Anfang des Studiums dieser Schritt mehr Zeit in Anspruch nehmen kann.
Im zweiten Schritt werden aus der Fallgeschichte die wesentlichen Informationen gefiltert, ohne diese jedoch zu interpretieren. Am Ende der Informationssammlung wird das primäre Problem, welches sich für den Patienten ergibt und weshalb er letzten Endes einen Arzt aufsucht, definiert.
Nun folgt die Hypothesensammlung. Das heißt, die Studierenden überlegen in diesem Schritt (Schritt drei), welche Erkrankung die beschriebenen Symptome auslösen könnte. Hierbei wird sehr viel Wert auf viele unterschiedliche Dimensionen der Hypothesen gelegt, damit die Studierenden möglichst früh lernen, breit zu denken und sich nicht auf einen Bereich zu spezialisieren.
Anschließend werden die Hypothesen geprüft beziehungsweise in der Gruppe diskutiert, welche am sinnigsten erscheinen. In der Regel darf hier die Person, welche die Hypothese aufgestellt hat, diese „verteidigen“ und im Anschluss wird in der Gruppe überlegt, ob man diese akzeptiert oder verwirft. Im besten Fall wurden sechs bis sieben Hypothesen aufgestellt und am Ende verbleiben durch die Diskussion zwei bis vier.
Nun kommen der wichtigste Teil und das absolute Highlight an POL: Die Zusammenstellung der Kausalketten. Hierbei wird auf ausführliche Kausalketten Wert gelegt, weshalb die Studierenden sich dafür oft 10-15 Minuten Zeit einräumen. Die Kleingruppe teilt sich nochmals in Zweier oder Dreier Gruppen und erstellt zu einer der vorherig festgelegten Hypothesen eine Kausalkette.
Eine Kausalkette ist wie folgt aufgebaut: Zu Anfang der Kausalkette steht der Patient. Am Ende ergeben sich seine Symptome. Nun soll anhand von Vorwissen (aus verschiedenen Ausbildungen/ dem vorherigen Semester/ aus der Schule/ persönlichen Erfahrungen) der Weg zu den Symptomen erläutert werden. Dabei sollten möglichst alle Symptome in die Kausalkette eingeschlossen werden. Die fachliche Korrektheit steht nicht im Fokus bei der Erstellung der Kausalkette. Das primäre Ziel ist zu lernen, wie man sein theoretisches Vorwissen in der Praxis anwendet und wenn man nicht weiterkommt, trotzdem versuchen kann, den Weg zum Symptom zu erfassen.
Die Kausalketten helfen auch, die entstandenen Wissenslücken spezifisch zu erkennen und motivieren dazu diese zu schließen, um die Kausalität der Erkrankung und der Symptome zu verstehen. Damit lernen die Studierenden wie relevant das theoretische Wissen aus der Vorklinik auch später für die klinischen Semester und das Berufsleben ist. Des Weiteren helfen die Kausalketten, bei vielen unterschiedlichen Symptomen systematisch und strukturiert vorzugehen. Auch dieser Punkt ist in der Klinik von großem Vorteil.
Nun folgt die Gewichtung der Kausalketten. Die Gruppe kommt wieder zusammen und jede Kleingruppe präsentiert ihre Kausalkette (meist am Whiteboard oder auf einem Plakat aufgezeichnet). Am Ende der Vorstellung wird besprochen, welche Hypothese die primäre Verdachtsdiagnose wird.
Im nächsten Punkt besprechen alle Gruppenmitglieder, welche Untersuchungen sie veranlassen bzw. selbst durchführen würden, um ihre Hypothese zu stützen. Dabei wird hier möglichst patientenfreundlich vorgegangen, indem die Studierenden dazu angehalten werden mit nicht-invasiven Untersuchungen zu beginnen (bspw. der körperlichen Untersuchung) und im späteren Verlauf erst die invasiven Untersuchungen zu veranlassen (bspw. Blutentnahme).
Da bis hierhin nur der erste Teil der Fallgeschichte bekannt ist, wird nun, der zweite Teil aufgedeckt und gelesen. Hier werden dann alle neuen Informationen zusammengefasst und man kann nun nochmals eine Hypothesenprüfung bzw. Kausalkettenprüfung vornehmen. Da meistens die Zeit für eine ausführliche Besprechung knapp ist, wird dieser Punkt mündlich durchgeführt.
Abgeschlossen wird die POL-Stunde mit der Formulierung von Lernzielen (Schritt 5), die sich aus der Fallgeschichte ergeben haben. Diese sollten möglichst präzise sein und können auch schon nach Fächern (Anatomie, Physiologie, Biochemie) geordnet werden. Diese Lernziele sind in der Regel als Fragen formuliert. Sie werden abgetippt und an die POL-Teilnehmer und den Dozierenden versendet. Hier endet die POL-Sitzung.
Nun haben die Studierenden Zeit, anhand ihrer Lernziele das Thema der Woche zu erarbeiten und auch die Dozierenden können ihre Vorlesung an den Lernzielen orientieren (Schritt 6).
Nach der Woche voller Vorlesungen und des Selbststudiums folgen in der nächsten Tutoriumssitzung die letzten beiden Schritte des acht Schritte Systems.
In der nächsten Woche werden die Lerninhalte zusammengetragen und nachbesprochen. Im optimalen Fall haben sich alle offenen Fragen der letzten Woche geklärt und die Studenten sind nun in der Lage die Symptome des Patienten zu erklären. Falls jedoch noch Fragen offen oder aber Symptome unklar sind, kann dies in der Nachbesprechung nochmals behandelt werden. Da für die gesamte Gruppe eine strukturierte und interaktive Nachbesprechung von einem Gruppenmitglied vorbereitet wird, können die neu erlernten Inhalte abgefragt werden und die Studierenden haben für sich nochmals einen kleinen Selbsttest, ob sie alles Wichtige verstanden haben. In der Regel soll die Nachbereitung 40-50 Minuten einnehmen und kann frei gestaltet werden.
Zuletzt folgt eine kleine Feedbackrunde, in der jeder die POL-Stunden kritisch bewerten darf.
POL findet an der Universität Witten/Herdecke für alle Vorkliniker am Mittwoch von 17-19 Uhr statt. Somit stehen allen POL- Gruppen zwei Stunden Zeit für die oben beschriebenen 8 Schritte zur Verfügung.
In der Regel soll die Nachbereitung 40-50 Minuten einnehmen und die restliche Zeit beschäftigt sich die Gruppe mit der neuen Fallgeschichte. Da jedoch vor allem anfangs viele Gruppen Zeitprobleme haben und oft überziehen, plant die Uni eine halbe Stunde Pufferzeit ein.
Die Studenten können jedoch selbst entscheiden, wie viel Zeit sie für jeden Schritt aufwenden möchten. Es empfiehlt sich, viel Zeit für die Kausalketten und auch die Lernziele einzuplanen.
Aufgabenverteilung während POL
Die POL-Gruppe besteht in der Regel aus 6 Studenten aus dem gleichen Semester. Diese werden begleitet von einem Co-Tutor (jemand aus dem klinischen Semester) und einem Tutor (im optimalen Fall ein Arzt oder Dozent).
Die Aufgaben der Tutoren ist es, die Gruppe zu unterstützen und bei fachlichen Fragen oder Unstimmigkeiten zur Seite zu stehen. Die Tutoren haben den kompletten Fall, sich daraus ergebende mögliche Lernziele und die Nachbereitung des Falles in Form eines Skriptes vorliegen. Wenn die Gruppe der Studenten zu sehr vom Thema abkommen sollte, sind die Tutoren dazu angehalten einzugreifen und die Studenten an die Lernziele heranzuführen. Des Weiteren sollen die Tutoren in der Nachbereitung überprüfen, ob alle wichtigen Themenkataloge in der Woche bearbeitet worden sind. Nach etwa der Hälfte des Semesters bietet das Tutoren-Team ein Einzelfeedback für jeden Studenten der Kleingruppe an. In diesem soll ihm noch mal Raum für Schwierigkeiten und Fragen gegeben werden, aber auch ein Feedback über seine Interaktion in der Gruppe und wie sein Lernprozess eingeschätzt wird, ist erwünscht.
Die POL-Stunden sollten jedoch von den Studenten gestaltet werden, die Tutoren sollen sich möglichst im Hintergrund halten. Um Struktur in diese Sitzungen zu bringen, nimmt deshalb jedes Gruppenmitglied in dieser Stunde eine Rolle an. Diese wird anfangs zugeteilt bzw. selbstständig entschieden. Folgende Rollen gibt es zu vergeben:
- Der Time-Manager: Dieser ist dafür zuständig, dass die Zeit im Auge behalten wird und alle pünktlich zum Ende kommt.
- Der Koch: Da POL oft nach einem langen Uni-Tag stattfindet, sind die meisten zu dieser Zeit sehr hungrig. Der Kochende bringt für die gesamte Gruppe etwas zu essen mit. Dieser wird eine Woche vorher festgelegt.
- Der Schreiber: Die Aufgabe von diesem ist es, am Whiteboard alles Relevante festzuhalten. Dabei werden die wichtigsten Informationen mitgeschrieben, die genaue Problemdefinition festgehalten und die Hypothesen notiert.
- Der Nachbereiter: Erklärt sich dazu bereit, die besprochene Fallgeschichte für die nächste Woche aufzubereiten und das neue Wissen in einer ihm freigestellten Form abzufragen/zu wiederholen.
- Der Moderator: Damit es kein wirres Durcheinander gibt und die 8 Schritte des POLs eingehalten werden, moderiert eine Person die gesamte Sitzung
- Erfassung der Lernziele: Derjenige dokumentiert am Ende der Stunde die Lernziele und ist dafür zuständig, dass diese bis zum nächsten Tag in digitaler Form an das Studiendekanat und an die Gruppe zugestellt werden.
Die Rollen rotieren jede Woche und es sollten möglichst alle Studenten jede Rolle mindestens einmal eingenommen haben.
Die Woche nach der POL-Stunde
Meistens haben die Studenten ab Donnerstag Zeit, sich mit den Lernzielen auf die kommende Woche vorzubereiten. Dabei werden möglichst alle Themen, die mit dem Patientenfall zu tun haben von den Studierenden vorbereitet. Dies wird auch von den Dozierenden in der nächsten Woche erwartet. Am Montag folgen nun die ersten Vorlesungen – auch Sprechstunden genannt. Die Sprechstunde ist keine Frontalvorlesung, wie man sie üblicherweise kennt. Hier erwartet der Dozierende, dass die Studenten zu Anfang der Stunde Fragen stellen, die sich bei der Eigenrecherche zum Thema ergeben haben. Im Laufe der Sprechstunde setzt der Dozierende nun Themenschwerpunkte und beantwortet die entstandenen Fragen. Dieses Konzept findet man in allen Sprechstunden (Anatomie, Physiologie…).
Nach den Sprechstunden haben die Studenten einen guten Überblick über die wichtigsten Themen bekommen und sind nun im optimalen Fall bis Mittwoch gut vorbereitet, um in der Nachbereitung mitmachen zu können.
Staatsexamenersetzende Prüfungen: Der MEQ
Nach der Vorklinik folgt an der Universität Witten/Herdecke nicht das Physikum. Es werden in Staatsexamen ersetzende Prüfungen angeboten, die das Physikum ersetzen beziehungsweise zusammen den 1. ärztlichen Ausbildungsabschnitt ergeben.
Die Prüfungen, die hierzu zählen, sind der MEQ (Modified Essay Question) und der OSCE (Objective Structured Clinical Examination). Der OSCE ist der praktische Teil des Leistungsnachweises, während der MEQ den schriftlichen Teil ausmacht.
Im OSCE, dem praktischen Teil, gibt es in der Regel 10-12 Stationen, die ein Student durchläuft. Hinter jeder Station verbirgt sich ein Krankheitsbild, ein Simulationspatient und ein Prüfer, der in der Regel ein Arzt ist. Bevor der Student das Zimmer betritt, kann er die genaue Aufgabenstellung an der Tür lesen.
Diese könnte beispielsweise lauten: "Frau Meier hat seit Tagen Schmerzen in der rechten Hand und nun auch Taubheitsgefühle. Verzichten Sie auf eine Anamnese und untersuchen Sie ihre Hand. Benenne Sie dabei alle Handwurzelknochen."
Nun kann der Student das Zimmer betreten und seine zuvor erlernten Untersuchungsmethoden unter Beweis stellen. Der Prüfer hat einen Erwartungshorizont vor sich liegen, anhand dessen er das Auftreten des Prüflings bewertet.
Damit mehrere Studenten gleichzeitig die Prüfung ablegen können, wird diese getaktet. Zum Lesen der Aufgabenstellung hat jeder eine Minute Zeit, danach ertönt ein Gong und die Prüflinge können das jeweilige Zimmer betreten. Zum Bearbeiten einer Aufgabenstellung bleiben in der Regel 5 Minuten, bevor der Gong nochmals ertönt und das Zimmer wieder verlassen werden muss. Am Ende ergibt sich die Gesamtnote des OSCEs aus allen Stationen.
Der MEQ wird − mit Ausnahme des ersten Semesters − nach jedem Semester geschrieben. Dabei wird in dieser Prüfung der gesamte Wissenstand, bis zum aktuellen Semester abgefragt. Das heißt im dritten Semester, in welchem der MEQ 2 geschrieben wird, werden auch Fragen aus den Themenschwerpunkten des ersten und zweiten Semesters gestellt.
Der MEQ ist keine Kreuzklausur, sondern besteht aus offenen Fragen. Da die Studenten ihre Lerninhalte anhand von Fallgeschichten erlernen, werden im MEQ die Fragen auch durch Patientenfällen abgefragt, wobei die Studenten unmittelbar nach der Frage viel Platz für eine frei formulierte Antwort haben.
Autorin: Saher Dilshad